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OLG Hamm, Beschluss vom 20.02.2025
Beschleunigungsgrundsatz bei Überhaft


III-5 Ws 77/25 OLG Hamm
U-Haft, Beschleunigungsgrundsatz, Überhaft, Förderung des Verfahrens,
Anfangsverdacht
Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Hamm, Beschl. v. 20.02.2025 – 5 Ws 77/25

Leitsatz des Gerichts:

1. Soweit sich der Staatanwaltschaft aufdrängen muss, dass gegen den anderweitig
in Strafhaft befindlichen Beschuldigten Antrag auf Erlass eines (Über-)Haftbefehls zu
stellen ist, kann sie sich dem in Haftsachen geltendem besonderen
Beschleunigungsgebot nicht dadurch entziehen, dass sie die Beantragung eines
"Überhaft"-Haftbefehls ohne sachlichen Grund hinauszögert.

2. Auch Zeiten, in denen der Haftbefehl nicht vollzogen wird, sind zu nutzen, um das
Verfahren nachhaltig zu fördern und es so schnell wie möglich abzuschließen.
Der Haftbefehl des Landgerichts Essen (22 Ks - 70 Js 234/23 - 10/24) vom 21.01.2025
wird aufgehoben.
Der Angeschuldigte O. ist in dieser Sache sofort aus der Untersuchungshaft zu
entlassen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeschuldigten O. insoweit
entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe
I.
Mit Schreiben vom 31.03.2023, eingegangen bei der Staatsanwaltschaft Essen am
05.04.2023, zeigte der Geschädigte J. an, dass er am 25.03.2023 von zwei Personen
in seinem Haftraum in der JVA N. angegriffen worden sei, weil er sich geweigert habe,
Drogen in die JVA zu schmuggeln. Diese hätten zunächst versucht, ihn zu töten, indem
einer der Angreifer ihn mit zwei Stiften in den Hals gestochen habe. Nachdem dies
dadurch gescheitert sei, dass die Stifte jeweils zerbrochen seien, sei er mit Schlägen
gegen den Kopf attackiert worden, so dass er einen Nasenbeinbruch erlitten habe.
Sodann hätten die Angreifer ihm seinen Tabak weggenommen und versucht, ihn zu
vergewaltigen.
Die Staatsanwaltschaft Essen leitete daraufhin Ermittlungen wegen versuchten
Totschlags ein. Diese ergaben, dass es sich bei den Angreifern um den
Angeschuldigten O. und den Mitangeschuldigten L. und bei dem Auftraggeber des
Angriffs um den Mitangeschuldigten Y. handeln soll. Als wesentliche
Ermittlungshandlungen wurde der Geschädigte J. am 04.07.2023 und seine Ehefrau
am 14.09.2023 vernommen. Ferner wurde am 29.01.2024 (auf Anregung der
Staatsanwaltschaft vom 19.01.2024) die Einholung eines DNA-Gutachtens betreffend
die sichergestellten Stifte beauftragt, erstellt durch das Landeskriminalamt am
08.04.2024, und am 15.04.2024 die Krankenunterlagen des Geschädigten
angefordert.
Am 19.04.2024 erließ das Amtsgericht Essen auf Antrag der Staatsanwaltschaft Essen
vom gleichen Tag gegen den Angeschuldigten O. Haftbefehl wegen versuchten
Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und versuchter
Vergewaltigung (§§ 177 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1, Abs. 6 Nr. 2, Abs. 8, 212 Abs. 1, 223 Abs.
1, 224 Abs. 1 Nr. 4, Nr. 5, 22, 23, 52 StGB). Der Haftbefehl ist auf den Haftgrund der
Schwerkriminalität gestützt (§ 112 Abs. 3 i.V.m. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) und dem
Angeschuldigten am 03.05.2024 verkündet worden. Wegen der weiteren Einzelheiten
der dem Angeschuldigten zur Last gelegten Tat sowie des Haftgrundes wird auf den
vorbezeichneten Haftbefehl des Amtsgerichts Essen vom 19.04.2024 Bezug
genommen. Da der Angeschuldigte O. sich bis zum 26.02.2025 in Strafhaft befindet,
ist insoweit Überhaft notiert.
Unter dem 16.07.2024 erhob die Staatsanwaltschaft gegen den Angeschuldigten
sowie die Mitangeschuldigten L., Y. und wegen einer weiteren Tat gegen den
Angeschuldigten K. Anklage vor dem Schwurgericht des Landgerichts Essen. Dem
Angeschuldigten O. legte sie nunmehr versuchten Mord aus niedrigen Beweggründen
in Tateinheit mit gefährlicher Köperverletzung, versuchter Vergewaltigung und
besonders schwerem Raub zur Last. Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug
genommen auf die Anklageschrift vom 16.07.2024.
Mit Verfügung vom 30.07.2024 setzte der Vorsitzende der 2. großen Strafkammer eine
Stellungnahmefrist zur Anklage von vier Wochen und fragte unter dem 24.09.2024 die
terminliche Verfügbarkeit der Verteidiger im Zeitraum Februar bis Mai 2025 sowie die
Bereitschaft zur psychiatrischen Exploration der Angeschuldigten ab. Nach
entsprechenden Rückmeldungen der Verteidiger reservierte der Vorsitzende für den
Fall der Eröffnung Termine ab dem 05.02.2025.
Am 14.01.2025 beantragte der Angeschuldigte O. mündliche Haftprüfung. Das
Landgericht erließ daraufhin am 21.01.2025 einen neuen Haftbefehl, welcher den
ursprünglichen Haftbefehl ersetzte und der Anklageschrift angepasst auf die Vorwürfe
des versuchten Mordes und des besonders schweren Raubes erweitert worden war.
Dieser wurde dem Angeschuldigten im Haftprüfungstermin verkündet. Hiergegen
richtet sich die (Haft-)Beschwerde des Angeschuldigten O. vom 21.01.2025. Gerügt
wird insbesondere, dass von einem Rücktritt vom versuchten Tötungsdelikt
auszugehen sei. Die Strafkammer hat der Beschwerde am 27.01.2025 nicht
abgeholfen und mit Verfügung vom gleichen Tag mitgeteilt, dass die ursprünglich
avisierten Termine nicht eingehalten werden können, da die Strafkammer in den
Monaten Februar bis April 2025 insbesondere mindestens sechs
Schwurgerichtssachen zu verhandeln habe, bei denen überwiegend der Ablauf der
Sechs-Monats-Frist bevorstehe. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die
Haftbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.
Die gem. § 304 Abs.1 StPO statthafte Beschwerde ist begründet.

1. Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand besteht kein dringender Tatverdacht
gegen den Angeschuldigten O. im Hinblick auf ein versuchtes Tötungsdelikt, da nicht
mit der erforderlichen Sicherheit ein strafbefreiender Rücktritt nach § 24 Abs. 1 StGB
ausgeschlossen werden kann.

a) Da der Angeschuldigte O. nach Abschluss der letzten ihm zur Last gelegten
Ausführungshandlung - dem zweiten Zustechen gegen den Hals - aufgrund des
Abbrechens der Stifte den Tod des Geschädigten nicht für möglich hielt und sodann
nicht weiterhandelte, wäre ein strafbefreiender Rücktritt nur zu verneinen, wenn der
Tötungsversuch fehlgeschlagen wäre.
Ein Fehlschlag liegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dann
vor, wenn der Täter nach seinem Vorstellungsbild unmittelbar nach Abschluss der
letzten Ausführungshandlung (sogenannter Rücktrittshorizont) erkennt, dass der
Taterfolg mit den bereits eingesetzten oder zur Hand liegenden Mitteln nicht mehr
herbeigeführt werden kann, ohne dass eine ganz neue Handlungs- und Kausalkette in
Gang gesetzt werden muss (BGH, Beschluss vom 16.08.2023 - 4 StR 215/23 -, Rn. 9,
juris m.w.N.). Der Versuch ist demgegenüber noch unbeendet und damit aufgabefähig,
wenn der Täter zwar die erste Handlung als fehlgeschlagen erkennt, aber eine
anderweitige Fortsetzungsmöglichkeit, die er ohne zeitliche Zäsur anwenden kann, für
erfolgsversprechend hält (Cornelius, in: Beck'scherOK, Stand: 01.02.2025, § 24 StGB
Rn. 18, beck-online). In diesen Fällen ist der Verzicht auf ein Weiterhandeln als ein
freiwilliger Rücktritt vom unbeendeten Versuch einzuordnen (BGH NStZ-RR 2017,
335).


b) Ausgehend von diesem Maßstab kann nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand
nicht mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden,
dass der Angeschuldigte O. sein Tötungsvorhaben bei dessen Aufgabe für gescheitert
hielt.
Die Ermittlungen sind trotz des gravierenden Tatvorwurfs äußerst oberflächlich und
nachlässig geführt worden. Aufklärungsbemühungen zu der Frage, ob dem
Angeschuldigten O. nach dessen Vorstellungsbild zeitnahe anderweitige
Fortsetzungsmöglichkeiten zur Tötung des Geschädigten zur Verfügung standen, sind
nicht einmal in Ansätzen entfaltet worden. Weder hat eine gründliche Spurensicherung
stattgefunden noch ist ein Tatortbefundbericht erstellt worden. Auch eine
systematische Zeugenvernehmung ist unterblieben. Mitarbeiter der
Justizvollzugsanstalt oder die Zellennachbarn, die den Angriff gemeldet haben, sind
nicht vernommen worden. Vielmehr sind als Zeugen ausschließlich der Geschädigte
und seine Ehefrau gehört worden, wobei auch hier die Frage unerörtert geblieben ist,
ob sich im Haftraum im Tatzeitpunkt weitere Gegenstände befanden, die der
Angeschuldigte zur Fortsetzung seines Tötungsvorhabens hätte einsetzen können.
Das Vorstellungsbild des Angeschuldigten im Zeitpunkt der letzten
Ausführungshandlung ist daher als völlig ungeklärt zu betrachten, so dass zu Gunsten
des Angeschuldigten O. gegenwärtig eine freiwillige Aufgabe des Tötungsvorhabens
zu unterstellen ist.

2. Im Hinblick auf die verbleibenden weiteren, immer noch sehr gravierenden
Tatvorwürfe - gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter
Vergewaltigung und besonders schwerem Raub - kann die Anordnung der
Untersuchungshaft jedenfalls aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht
aufrechterhalten bleiben, da das Verfahren gegen den Angeschuldigten O. nicht in
ausreichendem Maße gefördert wurde.

a) Der sogenannte Beschleunigungsgrundsatz gilt zwar in besonderem Maße für
Haftsachen, findet als Ausdruck der allgemeinen Fürsorgepflicht der Strafjustiz aber
auch allgemein, wenn auch in abgeschwächter Form Anwendung im strafrechtlichen
Erkenntnisverfahren (Fischer, in: Karlsruher Kommentar, 9. Aufl. 2023, Einleitung Rn.
29). Anerkannt ist in diesem Zusammenhang insbesondere, dass sich Gerichte bei
Haftvollzug in anderer Sache dem besonderen Beschleunigungsgebot nicht dadurch
entziehen können, dass sie die Entscheidung über den Haftbefehlsantrag
hinausschieben (BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 04.04.2006 - 2 BvR
523/06 -, BVerfGK 8, 1-9, Rn. 27; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Dezember 2018
- 1 Ws 341/18 -, Rn. 35 - 36, juris; OLG Koblenz, Beschluss vom 9. Dezember 2010 -
1 Ws 569/10 -, juris). Gleiches muss nach Auffassung des Senats auch für die
Staatsanwaltschaften in Bezug auf die Stellung des Haftbefehlsantrags gelten. Soweit
sich der Staatanwaltschaft aufdrängen muss, dass gegen den Beschuldigten Antrag
auf Erlass eines (Über-)Haftbefehls zu stellen ist, kann sie sich dem in Haftsachen in
besonderem Maße geltenden Beschleunigungsgebot nicht dadurch entziehen, dass
sie die Beantragung eines "Überhaft"-Haftbefehls ohne sachlichen Grund
hinauszögert.

b) Dies ist indes vorliegend geschehen. Das Ermittlungsverfahren ist in besonderem
Maße schleppend betrieben worden. Obgleich das Ermittlungsverfahren bereits mit
Verfügung vom 13.04.2023 der staatsanwaltschaftlichen Abteilung für Kapitalsachen
vorgelegt und sodann wegen Totschlagsversuchs geführt wurde (vgl. Schreiben der
Staatsanwaltschaft Essen vom 11.05.2023; Bl. 32 d.A.), ist der Geschädigte, der
aufgrund seiner Inhaftierung jederzeit zur Vernehmung zur Verfügung stand, erst am
04.07.2024 und damit nach 2 ½ Monaten als Zeuge vernommen worden. Auch im
Folgenden sind die Ermittlungen äußerst zögerlich geführt worden. Die Ehefrau des
Geschädigten wurde am 14.09.2023 (5 Monate nach Eingang der Strafanzeige)
vernommen, war aber nicht bereit auszusagen. Die DNA-Auswertung der Asservate
wurde - ohne dass hierfür ein sachlicher Grund ersichtlich wäre - erst im Januar 2024
(9 Monate nach Eingang der Strafanzeige) beauftragt, nahm 2 ½ Monate in Anspruch
und die Krankenunterlagen wurden im April 2024 (12 Monate nach Eingang der
Strafanzeige) angefordert. Wesentliche weitere Ermittlungshandlungen - etwa die
Einholung eines rechtsmedizinischen Gutachtens oder von Gutachten zur
Schuldfähigkeit - sind nicht in die Wege geleitet worden. Zudem führten die
Vernehmung der Ehefrau sowie die DNA-Auswertung zu keiner Verdichtung des
Tatverdachts. Vielmehr musste sich der Staatanwaltschaft - selbst wenn man das
versuchte Tötungsdelikt unberücksichtigt lässt - spätestens im Juli 2023 aufdrängen,
dass aufgrund der gravierenden Tatvorwürfe gegen den Angeschuldigten Haftbefehl
zu beantragen ist. Gleichwohl stellte sie den Haftbefehlsantrag erst unter dem
19.04.2024 und verfasste die Anklageschrift - obgleich in den weiteren drei Monaten
keine wesentlichen Ermittlungshandlungen mehr vorgenommen wurden - erst unter
dem 16.07.2024. Selbst unter Berücksichtigung des Umstands, dass das
Beschleunigungsgebot in Haftsachen während der Überhaft eine Abschwächung
erfährt (vgl. hierzu: Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Beschluss vom
11.02.2020 - 1 Ws 20/20 -, juris), ist dieser ungenutzte Zeitraum von ca. einem Jahr
als außerordentliche Verfahrensverzögerung zu werten. Denn auch Zeiten, in denen
der Haftbefehl nicht vollzogen wird, sind zu nutzen, um das Verfahren nachhaltig zu
fördern und es so schnell wie möglich abzuschließen (OLG Hamm, Beschluss vom 1.
März 2012 - III-3 Ws 37/12 -, juris; KG Berlin, Beschluss vom 20. Oktober 2006 - 5 Ws
569/06 -, Rn. 2, juris).

c) Die im Ermittlungsverfahren zu verzeichnenden, wesentlichen Verfahrensverzögerungen sind im Zwischenverfahren jedenfalls nicht kompensiert worden. Obgleich die
zur Anklageschrift gesetzten Stellungnahmefristen Ende August 2024 abgelaufen
sind, ist nicht zeitnah über die Eröffnung entschieden worden, sondern es sind lediglich
Termine für den Beginn der Hauptverhandlung ab dem Februar 2025 und damit fünf
Monate später reserviert worden.
Der Senat kann in diesem Zusammenhang offenlassen, ob die jetzige Terminsfreigabe
der Februartermine im Hinblick auf die außerordentlich hohe Belastung der
Strafkammer mit Schwurgerichtsverfahren in den Monaten Februar bis April
sachgerecht war. Hinzuweisen ist darauf, dass nur kurzfristige und vorübergehende
Überlastungen des Spruchkörpers solche Terminsverschiebungen rechtfertigen
können (vgl. Böhm, in: MünchKomm, 2. Aufl. 2023, § 121 StPO Rn. 87, beck-online).
Denn in der vorzunehmenden Gesamtschau stellen sich die bereits eingetretenen
erheblichen Verfahrensverzögerungen in Ermittlungs- und Zwischenverfahren von
über einem Jahr auch unter Berücksichtigung des erheblichen
Strafverfolgungsinteresses als so wesentlich dar, dass die Anordnung der
Untersuchungshaft nicht mehr verhältnismäßig ist.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467
Absatz 1 StPO.



OLG Hamm, Beschluss vom 09.04.2020 - 1 Ws 123/20


Zur (Un-)Verhältnismäßigkeit der erneuten Anordnung von Untersuchungshaft nach Verkündung eines Urteils (hier: 11 Jahre
und 6 Monate Freiheitsstrafe wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung) und dem damit
verbundenen Fortfall der Sperrwirkung einer vorangehend im Verfahren gemäß der §§ 121,122 StPO erfolgten Aufhebung des
Haftbefehls, zunächst erfolgtem Freispruch in einer früheren Hauptverhandlung, dessen Aufhebung durch den
Bundesgerichtshof und weiterer mehrjähriger Verfahrensverzögerung.

Tenor

1 Der angefochtene Haftbefehl wird aufgehoben.
2 Der Angeklagte ist sofort aus der Untersuchungshaft zu entlassen.
3 Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der dem Verurteilten im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen
Auslagen trägt die Landeskasse

Gründe
I.
5 Dem Angeklagten wird im vorliegenden Verfahren vorgeworfen, am 08.02.2012 in C gemeinsam mit seinem gesondert verfolgten
Onkel B G einen versuchten Mord in Tateinheit mit einer gefährlichen Körperverletzung (§§ 211, 223, 224 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 4, Nr.5, 22,
23, 25 Abs. 2, 52 StGB) begangen zu haben, indem sie gemeinschaftlich handelnd auf Veranlassung des bis zur diesbezüglichen
Abtrennung des Verfahrens am 26.03.2019 mitangeklagten Vaters des Angeklagten den Nebenkläger X unter Ausnutzung von dessen
Arg- und Wehrlosigkeit überfallen und in Tötungsabsicht mehrfach mit Messern auf den Nebenkläger eingestochen hätten, um den Tod
eines Bruders des Angeklagten zu rächen, der im Juni 2011 von Söhnen des Nebenklägers getötet worden sei. Der Nebenkläger habe
nur durch eine sofortige Operation gerettet werden können.

6
In dieser Sache war der Angeklagte erstmals am 10.02.2012 vorläufig festgenommen worden; anschließend befand er sich auf
Grundlage eines Haftbefehls des Amtsgerichts Bielefeld vom 09.02.2012 und nachfolgender Haftfortdauerentscheidungen des
Landgerichts Bielefeld, wo seit dem 31.08.2012 gegen ihn und seinen Vater T auf Grundlage einer Anklage der Staatsanwaltschaft
Bielefeld vom 30.05.2012 die Hauptverhandlung geführt wurde, bis zum 13.06.2013 erstmals in Untersuchungshaft. An diesem Tag hat
der hiesige 3. Strafsenat (III-3 Ws 148+161/13, juris) auf Haftbeschwerden des Angeklagten und seines Vaters die sie betreffenden
Haftentscheidungen aufgehoben sowie die Freilassung der damaligen Angeklagten aus Gründen der Verhältnismäßigkeit angeordnet,
da die Terminierungsdichte der bis dahin an 26 Sitzungstagen erfolgten Hauptverhandlung spätestens seit März 2013 nicht mehr dem
für Untersuchungshaftsachen in besonderem Maße geltenden Beschleunigungsgrundsatz genügt hatte.

7 Nach weiteren 18 Sitzungstagen ist der Angeklagte vom Landgericht Bielefeld mit Urteil vom 11.03.2014 freigesprochen worden, da
sich das Landgericht nicht davon hat überzeugen können, dass sich an dem von lediglich zwei Personen verübten Angriff auf den
Nebenkläger neben dem von diesem als Täter identifizierten B G gerade der Angeklagte und nicht etwa eine weitere, nicht identifizierte
Person namens " Y " beteiligt hat, die sich nämlich am Tattag anscheinend gemeinsam mit dem Angeklagten und dem B G zur
Aufklärung der Möglichkeit einer Vergeltungsaktion der Familie des Angeklagten von H nach C begeben und nach dem Inhalt eines
wenige Minuten vor der Tat zwischen dem Angeklagten und seinem Vater geführten Telefonats ebenso wie der Angeklagte (und im
Unterschied zu B G) ein Messer nach C mitgenommen hatte. Der Vater des Angeklagten wurde aufgrund des Inhalts des vorgenannten
Telefonats wegen versuchter Anstiftung zum Mord zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.

8 Dieses Urteil hat der Bundesgerichtshof auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft Bielefeld und des Vaters des Angeklagten mit Urteil
vom 21.05.2015 - 4 StR 577/14 - (juris) aufgehoben und die Sache an das Landgericht Dortmund zurückverwiesen. Nach Ansicht des
Bundesgerichtshof lag dem Freispruch des Angeklagten eine fehlerhafte Beweiswürdigung zugrunde, insofern zu besorgen sei, dass
das Landgericht den Zweifelsgrundsatz auf einzelne Indizien (wie etwa die im obigen Telefonat erklärte Bereitschaft des ein Messer bei
sich führenden Angeklagten, der Aufforderung seines Vaters zur Tötung des Nebenklägers Folge zu leisten) angewendet und dabei
Abläufe angenommen habe, für die sich keine Anhaltspunkte ergeben hätten, zudem ein eventuell gewichtiges Indiz, nämlich das
Tatmotiv der Rache des Angeklagten für seinen getöteten Bruder, nicht erwogen worden sei, und vor allem eine Gesamtwürdigung
aller Indizien fehle.

9 Nachfolgend sind die Strafakten am 15.06.2015 bei der hiesigen Generalstaatsanwaltschaft eingegangen und von dort zunächst an die
Staatsanwaltschaft Bielefeld versandt worden, welche die Akten dann an die Staatsanwaltschaft Dortmund weitergeleitet hat, wo die
Akten am 03.07.2015 eingingen und dem Landgericht Dortmund ausweislich eines Vermerks des damaligen Vorsitzenden der dortigen,
nunmehr zuständigen 37. großen Strafkammer vom 14.08.2015 (Bl. 3127 d.A.) am 07.08.2015 vorgelegt wurden.

10 Diesem Vermerk ist ferner zu entnehmen, dass mit einem Beginn der erneuten Hauptverhandlung binnen der nächsten zwei Monate
nicht zu rechnen sei, da der Kammer Haftsachen vorlägen. Vermerke und Mitteilungen ähnlichen Inhalts wurden insbesondere in
Reaktion auf verschiedene Sachstandsanfragen am 04.09.2015 (Bl. 3135 d.A.), am 25.07.2016 (Bl. 3155R d.A.), am 02.09.2016 (Bl.
3161 d.A.), - undatiert - im Februar 2017 (Bl. 3164R d.A.), am 16.01.2018 (Bl. 3224 d.A.) und am 09.03.2018 (Bl. 3181 d.A.)
niedergelegt. Am 22.08.2018 ist dann vermerkt worden, dass nach dem altersbedingten Ausscheiden des bisherigen Vorsitzenden am
30.06.2018 der Vorsitz in der 37. Strafkammer vakant und daher derzeit vorbehaltlich einer etwaigen Änderung der landgerichtlichen
Geschäftsverteilung nicht mit einer Terminierung zu rechnen sei (Bl. 3192 d.A.).

11 Mit richterlicher Verfügung vom 30.10.2018 (Bl. 3193 d.A.) ist dann die Staatsanwaltschaft Dortmund insbesondere um Durchführung
einer Wahlgegenüberstellung oder Wahllichtbildvorlage mit dem Nebenkläger und sieben weiteren Zeugen gebeten worden, um der
Möglichkeit nachzugehen, dass es sich bei dem bislang nicht näher identifizierten " Y " um einen Bruder des Angeklagten T gleichen
Vornamens handeln könnte (die Ergebnisse der diesbezüglichen polizeilichen Ermittlungen gingen später am 22.03.2019 bei der
Staatsanwaltschaft Dortmund ein, Bl. 3767 d.A.).

12 Nachdem dann seitens der Strafkammer seit dem 16.11.2018 zur Vorbereitung der erneuten Hauptverhandlung insbesondere die
übrigen Verfahrensbeteiligten zu Fragen der Bestellung eines Sachverständigen und eines Dolmetschers angehört sowie um die
Mitteilung der zur Verfügung stehenden Termine ab Februar 2019 gebeten worden waren, hat der Kammervorsitzende mit Verfügung
vom 20.12.2018 Termine zur Hauptverhandlung bestimmt, die entsprechend dieser Verfügung am 11.03.2019 begonnen werden
konnte. Am 39. Sitzungstag hat die Strafkammer schließlich den Angeklagten mit Urteil vom 10.03.2020 - 37 Ks 12/15 - wegen
versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren und sechs Monaten verurteilt,
wobei sechs Monate dieser Freiheitsstrafe wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung als vollstreckt gelten. Gegen
dieses bislang noch nicht in vollständiger Form zu den Akten gebrachte Urteil hat der Angeklagte noch am selben Tag Revision
eingelegt.

13 Ebenfalls am selben Tag hat die Strafkammer gegen den Angeklagten die erneute Untersuchungshaft angeordnet und ihm den
diesbezüglichen Haftbefehl verkündet. Zur Begründung hat die Strafkammer neben Ausführungen zum Vorliegen eines dringenden
Tatverdachts und dem Hinweis auf § 112 Abs. 3 StPO sowie eine nicht auszuschließende Fluchtgefahr insbesondere ausgeführt, dass
die Anordnung der Untersuchungshaft verhältnismäßig sei. Da sich mit der Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs
vergrößert habe sowie angesichts der Schwere der Tat und der hohen Straferwartung stehe dem Erlass des Haftbefehls nicht
entgegen, dass die Kammer eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von über drei Jahren festgestellt und das
Oberlandesgericht Hamm den früheren Haftbefehl wegen Unverhältnismäßigkeit aufgrund eines Verstoßes gegen das besondere
Beschleunigungsgebot in Haftsachen aufgehoben habe. Letzteres entfalte keine Sperrwirkung, mit der Urteilsverkündung einen neuen
Haftbefehl zu erlassen.

14 Hiergegen hat der Angeklagte mit anwaltlichen Schriftsätzen vom 10.03.2020 und vom 12.03.2020 Haftbeschwerde eingelegt, hierbei
Einwände gegen die Annahme eines dringenden Tatverdachts, eines Haftgrundes und der Verhältnismäßigkeit der erneuten
Untersuchungshaft erhoben und überdies am 10.03.2020 beantragt, gemäß § 307 Abs. 2 StPO die Vollziehung der angefochtenen
Entscheidung auszusetzen.

15 Dieser Haftbeschwerde hat die 37. Strafkammer mit Beschluss vom 12.03.2020 nicht abgeholfen. Die anschließend zunächst der
Staatsanwaltschaft Dortmund übersandten Akten sind dem Senat von der Generalstaatsanwaltschaft Hamm am 26.03.2020 vorgelegt
worden.

16 Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen. Wie bei der vergleichbaren Konstellation
der Aufhebung eines Haftbefehls im Verfahren nach den §§ 121, 122 StPO sei auch vorliegend davon auszugehen, dass die
Verurteilung des Angeklagten eine Zäsur bzw. Veränderung der Sachlage darstelle, die trotz der vorangegangenen Aufhebung des
früheren Haftbefehls die erneute Anordnung von Untersuchungshaft erlaube. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit dieser erneuten
Inhaftierung könne - unter Berücksichtigung der ursprünglichen Aufhebungsgründe - nach den gewöhnlichen Maßstäben erfolgen und
führe hier nicht zur Annahme einer Unverhältnismäßigkeit, insbesondere da die früheren Versäumnisse bei der Beschleunigung der
Sache nach der Verkündung des Urteils ersichtlich überwunden seien und nicht mehr fortwirkten.


II.
18 Die Beschwerde erweist sich als zulässig und begründet.

19 1.

20 Der Haftbefehl war nach § 120 Abs. 1 S. 1 StPO aufzuheben, weil die mit dem angefochtenen Haftbefehl erfolgte Anordnung der
erneuten Untersuchungshaft des Angeklagten insbesondere wegen erheblicher Verstöße gegen den Beschleunigungsgrundsatz als
unverhältnismäßig zu bewerten ist, die im Verfahren vor dem Landgericht Bielefeld (Ziff. II.1.a.) sowie nach Zurückverweisung der
Sache an das Landgericht Dortmund (Ziff. II.1.b.) eingetreten und auch bei Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der erst nachfolgend
angeordneten Untersuchungshaft zu berücksichtigen sind (Ziff. II.1.c.).

21 a. Hinsichtlich des Umstands, dass die zu diesem Zeitpunkt bereits über ein Jahr und vier Monate andauernde erstmalige
Untersuchungshaft des Angeklagten aus Gründen der Verhältnismäßigkeit am 13.06.2013 aufzuheben war, da die Terminierungsdichte
der am 31.08.2012 vor dem Landgericht Bielefeld begonnenen Hauptverhandlung spätestens seit März 2013 nicht mehr dem für
Untersuchungshaftsachen in besonderem Maße geltenden Beschleunigungsgrundsatz genügt hat, kann auf die Gründe des
Beschlusses des hiesigen 3. Strafsenats vom selben Tag - III-3 Ws 148+161/13 - (juris) Bezug genommen werden.

22 b. Auch im weiteren Verfahren kam es zu gravierenden zeitlichen Verzögerungen, insofern das Landgericht Dortmund erst am
20.12.2018 und somit über drei Jahre und vier Monate nach dem dortigen Eingang der Strafakten am 07.08.2015 Termine zur dann am
11.03.2019 begonnenen erneuten Hauptverhandlung bestimmt hat.

23 Auch insofern liegt ein erheblicher Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz vor. Denn als Ausfluss des Rechtsstaatsgebots gilt
das Beschleunigungsgebot nicht nur für Haftsachen (bei denen es allerdings in besonderem Maße Geltung beansprucht), sondern
muss in jedem strafrechtlichen Verfahren beachtet werden, da - wie sich auch aus Art. 6 Abs. 1 MRK ergibt - jede Person das Recht
darauf hat, dass über eine gegen sie erhobene Anklage in einem fairen Verfahren innerhalb angemessener Frist verhandelt wird (vgl.
nur BVerfG, Beschluss vom 19.03.1992 - 2 BvR 1/91 -, juris; Tepperwien, NStZ 2009, 1f.; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62.
Aufl., Einl. Rn. 160, jew. m.w.N.). Dass diesen Vorgaben im Vorfeld der Terminierung der erneuten Hauptverhandlung aus allein in den
Verantwortungsbereich der Justiz fallenden Gründen - zu denen es auch zählen würde, wenn einer nicht nur vorübergehenden
Überlastung des Spruchkörpers mit vorrangigen Haftsachen nicht durch gerichtsorganisatorische Maßnahmen wie einer Änderung der
Geschäftsverteilung Rechnung getragen worden oder dies aufgrund Personalmangels nicht möglich gewesen sein sollte (vgl. Senat,
Beschluss vom 03.04.2014 - III-1 Ws 137/14 - m.w.N., juris) - über mehrere Jahre nicht entsprochen worden ist, liegt nach Auffassung
des Senats auf der Hand und ist schon im angefochtenen Haftbefehl zutreffend als eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung
bewertet worden.

24 c. Vor diesem Hintergrund erweist sich die erneute Anordnung der Untersuchungshaft bei der gebotenen Abwägung zwischen dem
Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem staatlichen Strafverfolgungsanspruch als nicht mehr verhältnismäßig im Sinne des § 120
Abs. 1 S. 1 StPO, auch wenn sich - wie in dem angefochtenen Haftbefehl unter Hinweis auf den Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 22.02.2005 - 2 BvR 109/05 - (juris) zutreffend ausgeführt wird - mit der am 10.03.2020 erfolgten
Verurteilung des Angeklagten das Gewicht dieses Strafanspruchs vergrößert hat, da auf Grund der gerichtlich durchgeführten
Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Angeklagten als erwiesen angesehen worden ist.


25 Denn in derselben Entscheidung ist vom Bundesverfassungsgericht in Übereinstimmung mit seiner Rechtsprechung im Übrigen (vgl.
die Nachweise um Senatsbeschluss vom 03.04.2014, a.a.O.) klargestellt worden, dass allein dieser Gesichtspunkt noch nicht die
weitere Untersuchungshaft rechtfertigen kann, sondern er grundsätzlich nur ein Indiz für das Gewicht der zu verfolgenden Straftat
darstellt und es auch in dieser Konstellation im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem
Strafverfolgungsanspruch in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer ankommt,
die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig
sein kann: "Dies bedingt eine auf den Einzelfall bezogene Analyse des Verfahrensablaufs. Mit zunehmender Dauer der
Untersuchungshaft sind höhere Anforderungen an das Vorliegen eines sie rechtfertigenden Grundes zu stellen. Entsprechend dem
Gewicht der zu ahndenden Straftat können zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen.
Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung können aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat
zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft
herangezogen werden."

26 Hiervon ausgehend, kann der Senat nicht der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft beitreten, dass die früheren Versäumnisse bei
der Beschleunigung des vorliegenden Verfahrens nach Verkündung des Urteils ersichtlich überwunden seien, nicht mehr fortwirken
würden und daher angesichts der hohen Straferwartung die erneute Inhaftierung des in dieser Sache bereits früher über ein Jahr und
vier Monate in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten erforderlich und angemessen sei.

27 Dies folgt zwar nicht schon aus dem bloßen Umstand, dass der frühere Haftbefehl überhaupt aufgehoben worden war, schon da eine
solche formelle Sperrwirkung nur Entscheidungen des Oberlandesgerichts im Verfahren nach den §§ 121, 122 StPO zukommt, mit
denen die Voraussetzungen einer Fortdauer der Untersuchungshaft im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO verneint worden sind (vgl. Schmitt
in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 122 Rn. 19 ff.; Hilger in: LR-StPO, 26. Aufl., § 122 Rn. 38ff., jew. m.w.N.), und im Übrigen eine
solche Sperrwirkung - worauf schon in der angefochtenen Haftentscheidung hingewiesen worden ist - ohnehin mit dem Erlass eines
Urteils im Sinne des § 121 Abs. 1 S. 1 StPO entfällt (vgl. nur Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 20a m.w.N.).

28 Allein aus dem Entfallen bzw. - wie hier - Fehlen einer solchen Sperrwirkung folgt indes noch nicht ohne Weiteres, dass nach einem auf
Freiheitsstrafe erkennenden erstinstanzlichen Urteil trotz einer früheren Verletzung des Beschleunigungsgebots erneut ein Haftbefehl
ergehen darf (so zutreffend Schlothauer/Weiger/Nobis, Untersuchungshaft, 5. Aufl., Rn. 1272).

29 Bei der diesbezüglichen Prüfung kann es vorliegend letztlich dahinstehen, ob allein schon der vom hiesigen Oberlandesgericht mit
Beschluss vom 03.04.2014 dargelegte Verstoß gegen das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen durch eine unzureichende
Verfahrensförderung beim Landgericht Bielefeld dazu geführt hat, dass eine erneute Anordnung der Untersuchungshaft ausscheiden
musste (so Schlothauer/Weiger/Nobis, a.a.O., m.w.N.; ähnl. Hilger in: LR-StPO, a.a.O., § 122 Rn. 41), da - so die Ansicht des
Oberlandesgerichts Frankfurt im Beschluss vom 02.04.2013 - 1 Ws 28/13 - (juris) - eine die Haftbefehlsaufhebung bewirkende
Verfahrensverzögerung als nicht behebbarer Mangel dauerhaft fortwirke und eine nachträgliche Heilung des bereits festgestellten
Makels der rechtswidrigen Freiheitsentziehung wegen unzureichender Verfahrensförderung ausscheide, was eine auf
Verfahrensverzögerung gegründete Aufhebungsentscheidung maßgeblich von einer Aufhebungsentscheidung wegen fehlenden
dringenden Tatverdachts oder Fehlen eines Haftgrundes unterscheide.

30 Denn zu keinem anderen Ergebnis führt hier die grundsätzlich auch von der Generalstaatsanwaltschaft vertretene Ansicht, dass die
Gründe einer auf einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot gestützten Haftaufhebung lediglich als ein - nicht notwendig
entscheidender - Aspekt unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgebots beim Untersuchungshaftvollzug zu
würdigen sind (vgl. OLG Düsseldorf, StV 1994, 147).

31
In diesem Sinne hatte zwar das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 15.02.1967 - 1 BvR 653/66 - (juris) ausgeführt, dass bei
Eintritt neuer Umstände die erneute Inhaftierung eines Beschuldigten auch dann gerechtfertigt sein kann, wenn eine vorausgegangene
Untersuchungshaft wegen vermeidbarer Verzögerungen der Strafrechtspflege für verfassungswidrig erklärt worden war, da sich diese
früheren Bewertung nur auf den damaligen Stand des Strafverfahrens bezogen habe und sich daraus nicht herleiten lasse, daß eine
erneute Inhaftierung zu einem späteren Zeitpunkt auch dann unzulässig sein sollte, wenn neue Umstände eine Verhaftung auch unter
Berücksichtigung der in der früheren Entscheidung ausgesprochenen Grundsätze rechtfertigten, zumal sich das Gewicht der einzelnen
Umstände und ihre Bedeutung im Laufe eines Verfahrens ändern könnten.

32 Aber gerade die zusätzliche Berücksichtigung dieses weiteren Verfahrensgangs muss bei der gebotenen Abwägung zwischen dem
Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem staatlichen Strafverfolgungsanspruch zur Aufhebung des erneuten Haftbefehls führen,
auch wenn sich - wie bereits gewürdigt - mit der am 10.03.2020 erfolgten Verurteilung des Angeklagten das Gewicht dieses
Strafanspruchs vergrößert hat. Denn es ist nicht nur nicht ersichtlich, dass - so man dies überhaupt für möglich erachtet - die bereits
bei dem Landgericht Bielefeld eingetretene Verfahrensverzögerung nachfolgend durch besondere Beschleunigungsmaßnahmen durch
eine spätere überobligationsmäßige besonders beschleunigte Bearbeitung in einem für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der
Untersuchungshaft relevanten Sinne ausgeglichen werden konnten (vgl. Wankel in: KMR-StPO, § 121 Rn. 9d; Schultheis in: KK-StPO,
8. Aufl., § 121 Rn. 22a; Schmidt, NStZ 2006, 313, 314f.; krit. BVerfG, Beschluss vom 05.12.2005 - 2 BvR 1964/05 -, juris; Hilger in: LRStPO, a.a.O., § 121 Rn. 32, jew. m.w.N.). Vielmehr ist es nach dem Eingang der Sache bei dem Landgericht Dortmund sogar zu einer
weiteren, nunmehr mehrjährigen Verfahrensverzögerung gekommen. Zumindest deren zusätzliche Berücksichtigung muss daher nach
Ansicht des Senats trotz des Umstands, dass sich der Angeklagte während dieser Zeit auf freiem Fuß befunden hat, dazu führen, dass
die erneute Anordnung der Untersuchungshaft gegen den Angeklagten, der sich zuvor bereits über ein Jahr und vier Monate in
Untersuchungshaft befunden und im Übrigen seither durchweg - und zwar auch nach der Aufhebung des ihn freisprechenden Urteils
des Landgerichts Bielefeld - den Hauptverhandlungen gestellt hat, als unverhältnismäßig zu bewerten ist und daher aufzuheben war.

 2.
34 Aus diesem Grund kann letztlich dahinstehen, ob in der angefochtenen Haftentscheidung hinreichend nachvollziehbar dargelegt
worden ist, dass der Angeklagte der im Haftbefehl aufgeführten Tat aufgrund der in der erneuten Hauptverhandlung erfolgten
Beweisaufnahme im Sinne des § 112 Abs. 1 StPO dringend verdächtig ist.

35 Daher weist der Senat lediglich ergänzend darauf hin, dass der dringende Tatverdacht zwar grundsätzlich bereits durch die
Verurteilung nach Durchführung eines rechtsstaatlichen Regeln unterworfenen Erkenntnisverfahrens hinreichend belegt ist (zu
Entscheidungen gemäß § 268b StPO vgl. BGH, Beschluss vom 08.01.2004 - StB 20/03 -, Beschluss vom 28.10.2005 - StB 15/05 -,
BGH, Beschluss vom 11.08.2016 - StB 25/16 -, jew. zit. n. juris; Senat, Beschluss vom 27.01.2014 - III-1 Ws 14/14 -; Schmitt in: MeyerGoßner/Schmitt, a.a.O., § 268b Rn. 3). Greift indes - wie hier - der Angeklagte die anlässlich einer Urteilsverkündung ergangene
Haftentscheidung mit der Beschwerde an und liegen noch keine schriftlichen Urteilsgründe vor, auf die das Beschwerdegericht bei
seiner Entscheidung zurückgreifen könnte (vgl. Senat, a.a.O., m.w.N.), muss das erkennende Gericht - gegebenenfalls in der
Nichtabhilfeentscheidung - zumindest knapp darlegen, weshalb und wie sich in der Hauptverhandlung der dringende Tatverdacht
bestätigt hat, um dem Beschwerdegericht eine diesbezügliche Überprüfung zu ermöglichen, auch wenn die Beweiswürdigung dabei
nicht ihrer Tiefe im Urteil entsprechen muss (vgl. OLG Jena, Beschluss vom 30.09.2008 - 1 Ws 415/08 - m.w.N., juris; Graf in: KKStPO, 8. Aufl., § 112 Rn. 7a; Kuckein/Bartel in: KK-StPO, a.a.O., § 268b Rn. 4; Peglau in: BeckOK-StPO, Stand 01.01.2020, § 268b
Rn. 4ff.; Stuckenberg in: LR-StPO, a.a.O., § 268b Rn. 7, jew. m.w.N.).

36 Hinsichtlich dieser Anforderungen bestehen aus Sicht des Senats vorliegend bereits deshalb Zweifel, weil weder im angefochtenen
Haftbefehl noch in der Nichtabhilfeentscheidung die Einlassung des Angeklagten (mit Ausnahme des Details, dass er sein Handy am
Tattag bei sich getragen bzw. genutzt und sich zur Zeit des bereits erwähnten Telefonats mit seinem Vater in C aufgehalten und dort
den Nebenkläger in einem Café gesehen habe) in zumindest knapper Form mitgeteilt und unter Berücksichtigung der erhobenen
Beweise gewürdigt worden ist, obwohl gerade diese Einlassung und gegebenenfalls deren Widerlegung Umfang und Inhalt der
Darlegung der Beweiswürdigung bestimmen (vgl. Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 267 Rn. 12 m.w.N.).

37

Im Übrigen weist die Beweislage vorliegend die besondere Schwierigkeit auf, dass zwar nach den Gründen der angefochtenen
Entscheidung für den Angeklagten sowohl ein (Rache-)Motiv für die ihm zur Last gelegte Tat bestand, sich ihm infolge der Begegnung
mit dem Nebenkläger auch die Gelegenheit zu Tatbegehung bot und ihm hierfür mit dem im Telefonat mit seinem Vater erwähnten
Messer zumindest zunächst auch ein geeignetes Tatwerkzeug zur Verfügung stand, all dies jedoch nicht nur in gleichem Maße für
seinen Onkel B G gilt (der zwar nach dem Inhalt des vorgenannten Telefonats zum damaligen Zeitpunkt kein Messer bei sich führte,
vom Geschädigten jedoch als einer der beiden Täter der Messerattacke identifiziert wurde), sondern auch für den nicht näher
identifizierten " Y " möglich erscheint, der sich nämlich - wiederum ausgehend von dem von der Strafkammer für maßgeblich
erachteten Telefonat - am Tattag anscheinend ebenso wie der Angeklagte und sein Onkel zur Abklärung der Möglichkeit einer
Vergeltungsaktion der Familie des Angeklagten in C aufhielt und im Zeitpunkt des Telefonats ein als Tatwerkzeug in Betracht
kommendes Messer bei sich führte. Die Annahme, dass gerade der Angeklagte und nicht etwa dieser " Y " gemeinsam mit dem
gesondert verfolgten B G die ihm zur Last gelegte Tat begangen hat, obwohl mehrere, wenn auch nicht sämtliche Augenzeugen
unabhängig voneinander einen Größenunterschied der beiden Täter beschrieben haben und die Strafkammer nicht ausschließen kann,
dass der Angeklagte und B G gleich groß sind, bedurfte daher aus Sicht des Senats schon im Rahmen der Haftentscheidung einer
eingehenderen Begründung (vgl. Schlothauer/Wieder/Nobis, a.a.O., Rn. 448 zu Fn 135). Ob im Sinne eines dringenden Tatverdachts
hierfür neben den erfolgten Hinweisen auf mögliche Unsicherheiten in der Wahrnehmung der Zeugen im Rahmen des dynamischen
Geschehens schon die festgestellten zustimmenden Äußerungen des Angeklagten zur Aufforderung seines Vater im ungefähr 18
Minuten vor der Tat geführten Telefonat genügen, den Nebenkläger zu töten, vermag der Senat schon mangels Wiedergabe der
diesbezüglichen Einlassung des Angeklagten zum weiteren Geschehen nicht hinreichend zu beurteilen.

38
III.

39 Eine Entscheidung über den Antrag des Angeklagten vom 10.03.2020 auf Aussetzung des Vollzugs des angefochtenen Haftbefehls
gemäß § 307 Abs. 2 StPO war angesichts der abschließenden Entscheidung des Senats zur Aufhebung dieses Haftbefehls und zur
Anordnung der sofortigen Entlassung des Angeklagten nicht mehr veranlasst.

40
IV.

41 Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.



OLG Hamm, Beschluss vom 09.04.2020 - 1 Ws 123/20


1.
Verhältnismäßigkeit der erneuten Anordnung von Untersuchungshaft nach Verkündung eines Urteils: 11 Jahre 6 Monate Freiheitsstrafe wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung

2.
BGH 4 StR 392/20, Beschluss vom 16.02.2022
fehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrages auf Vernehmung eines Auslandszeugen




BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS
4 StR 392/20
vom 16. Februar 2022 in der Strafsache gegen *** wegen versuchten Mordes u. a.


Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 16. Februar 2022 gemäß § 349
Abs. 4 StPO beschlossen:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Dortmund vom 10. März 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über
die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des
Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

1 Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren
und sechs Monaten verurteilt, von der wegen überlanger Verfahrensdauer sechs
Monate als vollstreckt gelten. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner
auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg. Auf die Sachrüge und
die weiteren Verfahrensrügen kommt es damit nicht an.

2 Nach den Feststellungen stachen der Angeklagte und der flüchtige gesondert Verfolgte F. im Februar 2012 in Bielefeld gemeinsam mit Messern
auf den Nebenkläger ein, um ihn zu töten. Sie verletzten ihn dadurch lebensgefährlich. Die Tat war eine Racheaktion für einen Mord, den die Söhne des Nebenklägers im Juni 2011 am Bruder des Angeklagten begangen hatten.

3 Der Angeklagte beanstandet zu Recht die fehlerhafte Ablehnung von zwei
Beweisanträgen.


1. Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

a) Der Angeklagte bestritt in der Hauptverhandlung, sich an dem Angriff
beteiligt zu haben. Er sei zwar am Tattag mit seinem Onkel F. und
einem nicht identifizierten „A. “ – zu diesem verweigerte er nähere Angaben –
nach Bielefeld gefahren. Gemeinsam hätten sie den Nebenkläger in einem Internet-Café aufgespürt. F. und „A. “, die beide mit einem Messer bewaffnet gewesen seien, hätten spontan den Entschluss gefasst, den Nebenkläger anzugreifen. In einem Telefonat habe sein Vater – der weitere Mitangeklagte
S. – ihn ebenfalls zum Angriff aufgefordert. Er, der Angeklagte,
habe dies jedoch gegenüber F. und „A. “ abgelehnt und sich vom
späteren Tatort entfernt. Zahlreiche Augenzeugen bestätigten im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung einen durch zwei Personen ausgeführten
Messerangriff, ohne allerdings den Angeklagten als einen der beiden Täter wiederzuerkennen.

b) Die Verteidigerin des Angeklagten beantragte in der Hauptverhandlung,
den mit einer Anschrift in der Türkei benannten F. „unter Zusicherung
freien Geleits“ als Zeugen zu vernehmen. Der Antrag hatte unter anderem die
Beweisbehauptung zum Gegenstand, der Angeklagte habe sich an der Tat nicht
beteiligt.

Bereits zuvor hatte das Landgericht ein Rechtshilfeersuchen an die türkischen Polizeibehörden gestellt, um die Anschrift des F. in der Türkei
zu ermitteln und um ihn befragen zu lassen, ob er „zu einer Aussage bereit sei“.
Auf dieses Ersuchen teilte die türkische Polizei die Anschrift des Zeugen sowie
das Protokoll einer Vernehmung mit, demzufolge der Zeuge auf die Frage nach
seiner Aussagebereitschaft erklärt habe, dass „er in dieser Angelegenheit nicht
als Zeuge antreten möchte“.

Das Landgericht lehnte nunmehr den Beweisantrag nach § 244 Abs. 5
Satz 2 StPO ab, da die Vernehmung des im Ausland zu ladenden Zeugen „durch
die Aufklärungspflicht nicht geboten“ sei. Bei der Abwägung könne berücksichtigt
werden, ob der Zeuge voraussichtlich einer Ladung Folge leisten oder von einem
ihm zustehenden Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch machen werde. Die ablehnende Erklärung des Zeugen gegenüber der türkischen
Polizei sei „eindeutig und umfassend“.

Einen weiteren, im Wesentlichen gleichlautenden Antrag der Verteidigerin
lehnte das Landgericht mit weitgehend gleicher Begründung ebenfalls ab. Die
Erklärung des Zeugen enthalte keinerlei Einschränkungen oder Anhaltspunkte
dafür, dass der Zeuge lediglich nicht ohne freies Geleit zu einer Zeugenvernehmung in der Bundesrepublik erscheinen wolle.


2. Die nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zulässig ausgeführte Verfahrensrüge ist begründet. Das Landgericht hat die Beweisanträge mit rechtsfehlerhafter
Begründung abgelehnt.

a) Bei der Ablehnung eines Beweisantrags auf Vernehmung eines Zeugen, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre, ist das Gericht von dem Verbot der Beweisantizipation befreit und darf seine Entscheidung davon abhängig
machen, welche Ergebnisse von der beantragten Beweisaufnahme zu erwarten
sind und wie diese zu erwartenden Ergebnisse zu würdigen wären. Kommt es
unter Berücksichtigung sowohl des Vorbringens zur Begründung des Beweisantrags, als auch der in der bisherigen Beweisaufnahme angefallenen Erkenntnisse
zu dem Ergebnis, dass ein Einfluss auf seine Überzeugung auch dann sicher
ausgeschlossen ist, wenn der benannte Zeuge die in sein Wissen gestellte Behauptung bestätigen werde, ist eine Ablehnung des Beweisantrags rechtlich nicht
zu beanstanden (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juli 2018 – 3 StR
144/18; Urteil vom 13. März 2014 – 4 StR 445/13; Urteil vom 18. Januar 1994
– 1 StR 745/93, BGHSt 40, 60, 62; einschränkend Frister in SK-StPO, 5. Aufl.,
§ 244 Rn. 240). In dem hierfür erforderlichen Gerichtsbeschluss (§ 244 Abs. 6
Satz 1 StPO) müssen die maßgeblichen Erwägungen so umfassend dargelegt
werden, dass es dem Antragsteller möglich wird, seine Verteidigung auf die neue
Verfahrenslage einzustellen und das Revisionsgericht überprüfen kann, ob die
Antragsablehnung auf einer rational nachvollziehbaren, die wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalles erkennbar berücksichtigenden Argumentation beruht (BGH, Beschluss vom 12. Juli 2018 – 3 StR 144/18; Urteil vom 13. März
2014 – 4 StR 445/13; Urteil vom 18. Januar 1994 – 1 StR 745/93, BGHSt 40, 60,
63; Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 359).



Ob das Gebot des § 244 Abs. 2 StPO, die Beweisaufnahme zur Erforschung der Wahrheit auf alle entscheidungsrelevanten Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, es gebietet, dem Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen nachzukommen, kann nur unter Berücksichtigung der jeweiligen
Besonderheiten des Einzelfalles beurteilt werden. Allgemein gilt lediglich der
Grundsatz, dass bei einem durch die bisherige Beweisaufnahme gesicherten Beweisergebnis auf breiter Beweisgrundlage eher von der Vernehmung des Auslandszeugen abgesehen werden kann. Dagegen wird die Vernehmung des Auslandszeugen umso eher notwendig sein, je ungesicherter das bisherige Beweisergebnis erscheint, je größer die Unwägbarkeiten sind und je mehr Zweifel hinsichtlich des Werts der bisher erhobenen Beweise überwunden werden müssen;
dies gilt insbesondere dann, wenn der Auslandszeuge Vorgänge bekunden soll,
die für den Schuldvorwurf von zentraler Bedeutung sind (BGH, Beschluss vom 12. Juli 2018 – 3 StR 144/18; Urteil vom 13. März 2014 – 4 StR 445/13; Beschluss vom 26. Oktober 2006 – 3 StR 374/06; Becker in Löwe-Rosenberg,
StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 357).
Die Möglichkeit, nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO einen Beweisantrag auf
Vernehmung eines Auslandszeugen abzulehnen, erfasst nicht nur Fälle der
voraussichtlichen Unergiebigkeit der Zeugenaussage oder der Unerreichbarkeit
des Zeugen, sondern – als Unterfall der Unerreichbarkeit – grundsätzlich auch
solche Fallgestaltungen, in denen der Aufenthalt eines Zeugen zwar bekannt,
aber damit zu rechnen ist, dass er entweder einer Ladung nicht folgen oder im
Falle seines Erscheinens keine Angaben zur Sache machen werde. Dies gilt insbesondere für Zeugen, die der Beteiligung an der Tat verdächtig sind und denen
deswegen ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zusteht (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2013 – 5 StR 401/13; Beschluss vom 25. April 2002
– 3 StR 506/01; Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 357).


Die Möglichkeit, nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO einen Beweisantrag auf
Vernehmung eines Auslandszeugen abzulehnen, erfasst nicht nur Fälle der
voraussichtlichen Unergiebigkeit der Zeugenaussage oder der Unerreichbarkeit
des Zeugen, sondern – als Unterfall der Unerreichbarkeit – grundsätzlich auch
solche Fallgestaltungen, in denen der Aufenthalt eines Zeugen zwar bekannt,
aber damit zu rechnen ist, dass er entweder einer Ladung nicht folgen oder im
Falle seines Erscheinens keine Angaben zur Sache machen werde. Dies gilt insbesondere für Zeugen, die der Beteiligung an der Tat verdächtig sind und denen
deswegen ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zusteht (BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2013 – 5 StR 401/13; Beschluss vom 25. April 2002
– 3 StR 506/01; Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 357).

b) Diesen Maßstäben entsprechen die Ablehnungsbeschlüsse schon deshalb nicht, weil sie bereits im Ausgangspunkt die erforderliche Gesamtwürdigung
vermissen lassen, ob die Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO die beantragte Vernehmung des Zeugen gebot. Das Landgericht hat seine Prüfung ausschließlich auf einen einzigen Gesichtspunkt, nämlich die mutmaßliche Aussagebereitschaft des Zeugen bezogen. Dadurch hat es sich den Blick für die Frage
verstellt, welches Gewicht seiner Aussage in der Beweiswürdigung gegebenenfalls zuzumessen wäre und welche Anstrengungen demnach zu unternehmen
waren, um seine Vernehmung herbeizuführen. Für ein erhebliches Gewicht der
Aussage sprach, dass der Angeklagte die Tatbeteiligung bestritt und unmittelbare
Tatzeugen ihn nicht als Täter identifizieren konnten. Der Beweis seiner Täterschaft stützte sich allein auf – allerdings ihrerseits gewichtige – Indizien, namentlich auf seine Anwesenheit in Bielefeld zur Tatzeit, das von der Polizei aufgezeichnete Telefonat mit seinem Vater und das Motiv der Rache für die Ermordung
seines Bruders. Damit konnte die Aussage des F. als eines mutmaßlichen, am Tatort handelnden Mittäters für eine Belastung oder Entlastung des
Angeklagten von zentraler Bedeutung sein, da sie möglicherweise geeignet war,
seine Täterschaft zu beweisen oder die für seine Täterschaft sprechenden Indizien zu entkräften, etwa die Existenz oder die Anwesenheit des unbekannt gebliebenen „A. “ am Tatort.

Soweit das Landgericht die Ablehnung der Vernehmung allein damit begründet hat, der Zeuge habe bei der türkischen Polizei angegeben, er wolle „in
dieser Angelegenheit nicht als Zeuge antreten“, ist dies auch für sich genommen
ermessensfehlerhaft, da das Landgericht aus der Erklärung des Zeugen zu weit
gehende Schlussfolgerungen gezogen hat und damit bei seiner Entscheidung
von einer falschen Voraussetzung ausgegangen ist. Es hat zu Unrecht angenommen, der Zeuge sei unter keinen Umständen bereit, vernommen zu werden, und
damit unerreichbar. Denn der herangezogenen Erklärung des Zeugen gegenüber
der türkischen Polizei im Rahmen des Rechtshilfeersuchens ließ sich ein derart
weitreichender Bedeutungsgehalt nicht entnehmen. Der Zeuge war auf Ersuchen
des Landgerichts lediglich pauschal nach seiner Aussagebereitschaft gefragt
worden, ohne über die rechtlichen Bedingungen einer Zeugenaussage aufgeklärt
worden zu sein. Insbesondere war er weder über die Möglichkeit freien Geleits
gemäß Art. 12 Abs. 1 des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens
(EuRHÜbk) unterrichtet worden, noch über Auskunfts- und Zeugnisverweigerungsrechte. Angesichts der an ihn gerichteten unspezifischen Frage nach der
Bereitschaft, als Zeuge auszusagen, ließ die Antwort offen, ob der Zeuge sich als
mutmaßlicher Mittäter auf ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO oder
mit Blick auf seine Verwandtschaft zum Angeklagten und zum Mitangeklagten
S. auf ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO
berufen wollte, oder ob er – nicht fernliegend – zu einer Zeugenaussage in Deutschland deshalb nicht bereit war, weil er in Unkenntnis des Rechtsinstituts
des freien Geleits damit rechnete, bei der Einreise verhaftet zu werden.

c) Das Urteil beruht auf dem Rechtsfehler. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht zu einer anderen Würdigung der Beweise gelangt
wäre, wenn der Zeuge die in sein Wissen gestellten Umstände bestätigt hätte. Er
hebt das angefochtene Urteil daher auf.


Quentin
Bender RiinBGH Dr. Bartel ist
wegen Krankheit an
der Unterschriftsleistung gehindert.
Quentin
RiBGH Dr. Scheuß ist wegen Urlaubs an der Unterschriftsleistung gehindert.
Quentin
Messing


Vorinstanz:
Dortmund, LG, 10.03.2020 - 400 Js 255/15 37 Ks 12/15